„Skrupellose Demagogen und Nationalisten wollen das vereinte Europa zerstören“
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„Skrupellose Demagogen und Nationalisten wollen das vereinte Europa zerstören“

David McAllister (CDU) über den Zustand Europas, den Umgang mit EU-Kritikern und das deutsch-französische Verhältnis

 Herr McAllister, würden die Parteien vor dieser Wahl weniger oder gar nicht über einen Aufstieg von Nationalisten und Rechtspopulisten sprechen, wenn die Europäische Union sich bereits vor Jahren reformiert hätte?

David McAllister: In den letzten Jahren hat die Europäische Union deutliche Fortschritte gemacht. Es gilt nun, die EU weiter zu reformieren und handlungsfähiger zu machen. Klar ist aber: Diese Europawahl wird nicht wie jede Wahl zuvor. Wir stehen Kräften gegenüber, die ein starkes und geeintes Europa ablehnen. Darunter sind skrupellose Demagogen und Nationalisten, die das vereinte Europa zerstören wollen. Diese Radikalen betreiben eine Politik nach dem immer gleichen Schema: Sie geben einfache Antworten auf hochkomplexe Fragen; sie polarisieren; sie spalten die Gesellschaft; sie suchen stets einen Schuldigen – in diesem Fall die Europäischen Union.

 Offenkundig treffen sie damit einen Nerv.

David McAllister: Das beste Argument gegen das aggressive Auftreten der Demagogen ist eine gute Sacharbeit. Die Europäische Union sollte sich auf die Aufgaben konzentrieren, die einen echten Mehrwert haben für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist die richtige Antwort auf die Agitation dieser Leute. Wir überlassen unser Europa nicht den Populisten!

 Wo sehen Sie Nachholbedarf?

David McAllister: Die EU muss besser werden. Die europäische Einigung ist die einzig richtige Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Es gilt, unsere Staatengemeinschaft nun fit für die Zukunft zu machen.

 Was meinen Sie damit genau?

David McAllister: Die Europäische Union muss effizienter, handlungsfähiger, bürgernäher und transparenter werden. Wir dürfen uns nicht im bürokratischen Klein-Klein verzetteln. Die Nationalisten wollen Europa zerstören, wir wollen Europa stark machen. Wir sind für eine offene Gesellschaft, eine liberale Demokratie und eine soziale Marktwirtschaft.

 Stimmen Sie denen zu, die sagen, wenn die EU sich demokratisieren will, müsse sie neue institutionelle Formen entwickeln?

David McAllister: Das Europäische Parlament ist die einzig direkt gewählte Institution der Europäischen Union. Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger. Mit dem Lissabon-Vertrag wurde die Stellung des Parlaments erheblich gestärkt. So wählen die Abgeordneten den Kommissionpräsidenten und sind für den Haushalt verantwortlich.

 Allerdings nicht allein, das Parlament muss sich immer mit dem Ministerrat einigen. Sollte das geändert werden?

David McAllister: Nein. Es ist wichtig, dass die Mitgliedstaaten aktiv an der Gesetzgebung mitwirken, die sie selbst betrifft. Das Europäische Parlament sollte allerdings eigene Gesetzesvorschläge einbringen können.

 Sie sagten eben, die EU müsse auch transparenter werden. Was fällt Ihnen da als erstes ein?

David McAllister: Hier ist vor allem der Rat gefordert.

 Inwiefern?

David McAllister: Das Europäische Parlament arbeitet transparent. Alle Ausschüsse und Plenarsitzungen können Sie im Internet live verfolgen, das Abstimmungsverhalten ist einsehbar. Wer sich mit dem Parlament im Detail befasst, wird erstaunt sein, wie transparent wir hier arbeiten. Der Rat der Europäischen Union (auch „Ministerrat“ genannt, Anm. d. Red.) arbeitet anders.

 Was schlagen Sie vor?

David McAllister: Die derzeitige Praxis führt dazu, dass Bürger oft nur schwer die Verhandlungen und Vorgänge in den Ministerräten nachvollziehen können. Mehr Transparenz bei den Entscheidungsprozessen wäre wünschenswert.

 Kritik gibt es immer wieder an den sogenannten Trilogverfahren, die oft einer Entscheidung über ein Gesetz vorhergehen.

David McAllister: Es muss Verhandlungsformate geben, in denen man vertraulich eine gemeinsame Position ausloten kann. Aber: 28 Mitgliedsstaaten mit ihren eigenen Interessen machen die Trilogverfahren nicht gerade einfach. Multinationale Demokratie ist eben sehr komplex. Ich bin für jeden Vorschlag offen, wie man die Trilogverfahren effizienter und zugleich transparenter gestalten könnte. Das ist anspruchsvoll.

 Was antworten Sie denjenigen, die fordern, der andere Rat, der Europäische Rat, dem die Staats- und Regierungschefs angehören, sollte abgeschafft werden?

David McAllister: Ein neuer Aufbruch für Europa funktioniert nicht ohne die Mitgliedstaaten, mit deren Parlamenten, Regierungen und den Staats- und Regierungschefs. Sie bringen ihre nationalen Interessen auf europäischer Ebene zusammen. Daraus entsteht unser europäisches Gewicht auf der internationalen Bühne. Der Europäische Rat ist somit von großer Bedeutung.

 Er blockiert viele Vorhaben des Parlaments, das seine Pläne gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten nicht durchsetzen kann.

David McAllister: Häufig sind es die Staats- und Regierungschefs, die die heiklen Themen voranbringen. Da wird dann auch mal ein Knoten durchgeschlagen. Allerdings frage ich mich manchmal, ob wirklich derart viele Detailfragen im Europäischen Rat erörtert werden müssen. Manche wären im Ministerrat ebenso gut aufgehoben.

 Wir halten fest: Sie sind gegen die Abschaffung des Europäischen Rates.

David McAllister: Ja. Der Europäische Rat legt die allgemeinen politischen Ziele fest und ist wichtig, um erforderliche Impulse für die Entwicklung der EU zu geben.

 Ein anderer Punkt: Sollte die Zahl der Kommissare reduziert werden?

David McAllister: Wir brauchen eine handlungsstärkere und schnellere Europäische Union. Um dieses Ziel zu erreichen, ist auch eine verkleinerte Kommission in Betracht zu ziehen.

Wie sehr schwächen illiberale Entwicklungen innerhalb der EU die Glaubwürdigkeit der Union in den Außenbeziehungen?

David McAllister: Die Europäische Union ist mehr als nur ein gemeinsamer Binnenmarkt. Sie ist eine Wertegemeinschaft und ebenso eine Rechtsgemeinschaft. Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip wiegen schwer. Deshalb sind ja auch Verfahren gegen die polnische und ungarische Regierung eingeleitet worden.

 Im Fall Ungarn war die EVP-Fraktion gespalten.

David McAllister: Wenn wir nicht penibel darauf achten, dass in unserer eigenen Wertegemeinschaft die Werte und Verfahren eingehalten werden, droht uns ein enormer Ansehensverlust in der Welt. Wir können nur dann glaubhaft eintreten für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Meinungsfreiheit, religiöse Toleranz und Gleichberechtigung von Frauen und Männern, wenn wir all das in unserer europäischen Gemeinschaft auch vorleben.

 Die CSU hat Viktor Orbán lange verteidigt. Hat auch die CDU ihn rückblickend zu lange gewähren lassen?

David McAllister: Es ist wichtig, dass man im Dialog bleibt und Gesprächsfäden nicht abreißen. Wohin dies führen kann, konnte man nach dem Austritt der britischen Konservativen aus der EVP-Fraktion im Jahre 2009 sehen. Mit Viktor Orbán und der Fidesz-Partei haben wir uns immer wieder um konstruktive Gespräche bemüht und ein klares Bekenntnis zu unseren gemeinsamen europäischen Werten gefordert. Die EVP hat die Fidesz-Partei daher vor zwei Monaten suspendiert. Bis auf Weiteres nimmt sie nicht an EVP-Treffen teil, hat kein Stimmrecht und keine Möglichkeit, Kandidaten für Ämter vorzuschlagen.

 Braucht es für solche Fälle nicht andere Verfahren?

Generell ist meine Beobachtung: Es gibt ein sehr differenziertes Instrumentarium für Staaten, die Mitglied der EU werden wollen. Das hat sich bewährt. Was fehlt, ist ein differenziertes Instrumentarium für Länder, die bereits Mitglied sind. Also Mitgliedstaaten, die im Laufe der Zeit Standards nicht mehr erfüllen. Da gibt es ja gegenwärtig nur das Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 EUV, das ein sehr scharfes Schwert ist.

 Wie realistisch ist denn diese Hoffnung?

David McAllister: In den letzten Wochen hat es von verschiedenen Seiten gute Vorschläge gegeben, dass ein unabhängiger Expertenrat Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in jedem EU-Land regelmäßig überprüfen soll. Das wäre ein wichtiger Schritt, um unsere europäischen Standards innerhalb der EU auf einem hohen Level zu halten. Bei Verstößen gegen das Rechtsstaatsgebot könnten Fördergelder gekürzt oder gar gestrichen werden.

„Präsident Macron macht viele interessante Vorschläge“

 Herr McAllister, braucht es einen Neuanfang im deutsch-französischen Verhältnis?

David McAllister: Nein. Die deutsch-französischen Beziehungen sind in ihrer Breite und Tiefe in Europa einzigartig. Keine zwei Länder der EU arbeiten so eng und vertrauensvoll zusammen wie Deutschland und Frankreich. Es gibt regelmäßig bilaterale Treffen und Austausch auf allen Ebenen. Erst jüngst haben wir mit dem Aachener Vertrag die guten Beziehungen auf eine neue vertrauensvolle Stufe gestellt, 55 Jahre nach dem Élysée-Vertrag.

 Aber wie sehr schadet es Europa, wenn zwei traditionell enge Partner sich derart uneinig sind?

Dass es in Einzelfragen Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Berlin gibt, ist nichts Neues. Das gab es früher schon – und das wird es auch in Zukunft immer mal wieder geben. Entscheidend ist doch eines: In den großen Fragen ziehen Paris und Berlin an einem Strang. Schauen Sie sich doch die gemeinsamen Vorstellungen zu einer engeren Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Ein aktuelles Beispiel, wo wir uns ganz konkret auf eine gemeinsame Position verständigt – und diese dann auch EU-weit mehrheitsfähig gemacht haben.

 Sind Klima- oder Haushaltsfragen keine wichtigen Fragen?

David McAllister: Doch, aber es ist doch normal, dass nicht in allen Fragen sofort Einigkeit besteht. Gegenbeispiel: Es gibt grundsätzlich Übereinstimmung, was die weitere Reform der Wirtschafts- und Währungsunion angeht. Es ist gut, dass wir mit Emmanuel Macron einen französischen Präsidenten haben, der die europapolitische Debatte belebt. Allerdings gehört es auch dazu, dass Vorschläge zunächst einmal auf ihre Praxistauglichkeit geprüft werden. Die Beziehungen sehe ich nicht so kritisch, wie es teilweise dargestellt wird.

 Frau Merkel sagte der Süddeutschen Zeitung, es gebe Mentalitätsunterschiede zwischen Herrn Macron und ihr sowie Unterschiede im Rollenverständnis.

David McAllister: Und das ist kein Drama. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist und bleibt der entscheidende Motor für die weitere europäische Integration. Präsident Macron macht viele interessante Vorschläge. Lasst uns diskutieren wie die EU auf die großen Herausforderungen reagieren und ihre Erfolgsgeschichte unter geänderten globalen Rahmenbedingungen fortsetzen kann. Fraglich erscheint allerdings, ob dazu weitere Behörden und neue Gremien geschaffen werden sollten.

 An welchen Vorschlag denken Sie?

David McAllister: Ich sehe zum Beispiel eine europäische Arbeitslosenversicherung sehr kritisch. Sie würde zu dauerhaften Transferzahlungen innerhalb der EU führen und Anreize mindern, strukturelle Arbeitslosigkeit abzubauen. Für die Sozialsysteme und die Arbeitsmarktpolitik sollten die Mitgliedstaaten verantwortlich bleiben. Das hat sich bewährt.

 Das Spitzenkandidaten-Modell ist umstritten. Der bekannteste Kritiker ist auch hier Herr Macron, der sagte, er wolle sich nicht daran halten. Auch andere Staatschefs können der Idee nicht viel abgewinnen.

David McAllister: Das Spitzenkandidatenprinzip leistet einen Beitrag dazu, die Europapolitik transparenter und demokratischer zu gestalten. Es ist doch gut, dass die Bürger vor einer Europawahl erfahren, wer im Falle eines bestimmten Wahlausgangs an der Spitze der europäischen Exekutive steht. Da wurde 2014 ein Meilenstein gesetzt.

 Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass das Spitzenkandidaten-Modell wieder abgeschafft wird?

David McAllister: Das Modell ist diesmal so umstritten. Denn falls es sich ein weiteres Mal bewährt, wäre eine Tradition begründet! Einige Staats- und Regierungschefs wollen lieber selbst im Hinterzimmer entscheiden, wer Kommissionpräsident wird.

 Angela Merkel gilt ebenfalls nicht als Vorkämpferin des Spitzenkandidaten-Prinzips.

David McAllister: Die Bundeskanzlerin setzt sich dafür ein, dass Manfred Weber der nächste Präsident der Europäischen Kommission wird, sofern die EVP als stärkste Kraft aus den Europawahlen hervorgeht.

 Bedauern Sie es, dass Angela Merkel nicht für ein Spitzenamt in Europa zur Verfügung steht, wie Sie nun mitteilte?

David McAllister: Angela Merkel ist deutsche Bundeskanzlerin. Und sie hat angekündigt, dass sie bis zum Ende der Wahlperiode bereit ist, Deutschland als Kanzlerin zu dienen.

 Würden Sie den Schritt dennoch begrüßen?

David McAllister: Diese Frage stellt sich schlicht und einfach nicht. Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin.

 Stimmen Sie denn denen zu, die sagen Frau Merkel wäre auf europäischer Bühne die ideale Vermittlerin in diesen schweren Zeiten?

David McAllister: Wenn Angela Merkel sagt, sie stehe nicht zur Verfügung, dann sollten das alle akzeptieren. (Manuel Schumann)