David McAllister zum Brexit: „Es steht Spitz auf Knopf in London“
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David McAllister zum Brexit: „Es steht Spitz auf Knopf in London“

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament hält es für möglich, dass das Unterhaus den Brexit-Vertrag nächste Woche bewilligt.

David McAllister, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, hält es für denkbar, dass der EU-Austrittsvertrag im vierten Anlauf vom britischen Parlament genehmigt wird. „Möglich ist das“, sagte der frühere niedersächsische Ministerpräsident dem Handelsblatt. 

„Vielleicht ist Boris Johnson seinem Ziel am vergangenen Samstag sogar näher gekommen“, sagte der CDU-Politiker. Von der erforderlichen Mehrheit von rund 320 Abgeordneten sei Johnson nicht mehr weit entfernt. „In London steht es jetzt Spitz auf Knopf“, sagte McAllister. 

Das Unterhaus hatte am Samstag mehrheitlich entschieden, die Abstimmung über das Austrittsabkommen zu verschieben. Premierminister Boris Johnson will Anfang der Woche die implementierende Gesetzgebung zu dem Abkommen ins Parlament einbringen und damit den Weg für eine Abstimmung freimachen. 

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Herr McAllister, dreimal hat das Unterhaus den Brexit-Vertrag schon durchfallen lassen. Wird das nächste Woche zum vierten Mal passieren?
Das ist schwer einzuschätzen. Vorhersagen zur britischen Politik sind immer gewagt, selbst wenn man sie nur 48 Stunden vorher trifft. Dass am Samstag ein Antrag auf Verschiebung der Abstimmung gestellt und eine Mehrheit finden würde, damit hat vorher auch nicht jeder gerechnet.

Wie wird es nun weitergehen im britischen Parlament?
Offenbar will Premierminister Johnson schon am Montag die implementierende Gesetzgebung für den Austrittsvertrag in das Parlament einbringen. Am Montag oder am Dienstag könnte es zu einer Abstimmung kommen. Aber hundertprozentig vorhersagen kann man nichts. Man weiß ja nicht, welche Anträge die Opposition noch einbringen und welche Abstimmungen der Speaker genehmigen wird.

Halten Sie es überhaupt für möglich, dass Johnson das Abkommen durch das Parlament bringt?
Möglich ist das. Vielleicht ist Boris Johnson seinem Ziel am vergangenen Samstag sogar ein Stück näher gekommen. 306 Abgeordnete hat er schon an Bord. Unter den Parlamentariern, die am Samstag für eine Verschiebung gestimmt haben, gibt es einige, die den Vertrag befürworten wollen. Johnson kommt also jetzt in die Nähe der erforderlichen rund 320 Ja-Stimmen. In London steht es Spitz auf Knopf. Auf jeden Fall werden wir noch dramatische Abstimmungen erleben.

Johnson hat eine Verlängerung der britischen EU-Mitgliedschaft beantragt und sich zugleich mit einem zweiten Brief wieder davon distanziert. Was soll die EU mit dieser widersprüchlichen Botschaft anfangen? 
Dass Johnson den Verlängerungsantrag nicht unterschrieben und die Verlängerung in einem zweiten Brief abgelehnt hat, könnte noch ein juristisches Nachspiel haben. Ich könnte mir vorstellen, dass einige britische Parlamentarier vor Gericht klären wollen, ob Johnson sich damit rechtskonform verhalten hat. Schließlich hat ihm das Parlament per Gesetz den Auftrag erteilt, einen Verlängerungsantrag in Brüssel zu stellen.

Sollte die EU die Verlängerung bewilligen? Es wäre immerhin schon die vierte …
Die EU-27 sollten sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Bevor die Staats- und Regierungschefs eine Entscheidung treffen, brauchen sie Klarheit. Eine Entscheidung über die Verlängerung sollte daher erst dann fallen, wenn das Unterhaus über das Austrittsabkommen abgestimmt hat.

Johnson hat es versäumt, seinen Verlängerungsantrag zu begründen – obwohl die EU-27 genau das immer verlangt haben.
Wir haben in Großbritannien die komplexe Situation, dass Regierung und Parlamentsmehrheit in der Brexit-Frage unterschiedlicher Auffassung sind. Sollte sich zeigen, dass Johnson keine Mehrheit findet und der Austrittsvertrag im Parlament scheitert, dann wird die britische Seite darlegen müssen, wie es weitergeht.

Mit jedem Aufschub des britischen EU-Austritts verlängert sich auch die Unsicherheit. Johnson spricht in seinem Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk von einem „Korrosionseffekt“ für die Wirtschaft. Damit hat er doch gar nicht so unrecht, oder?
Die mit dem Brexit verbundene Unsicherheit ist für die Wirtschaft natürlich eine sehr große Herausforderung. Doch was ist die Alternative? Wenn das Austrittsabkommen im britischen Parlament erneut durchfallen sollte und wir die britische EU-Mitgliedschaft dann nicht verlängern würden, käme es zum ungeordneten Austritt am 31. Oktober. Der No-Deal-Brexit wäre sehr negativ vor allem für die britische Volkswirtschaft, aber auch für die EU.

Inzwischen fordern alle britischen Oppositionsparteien ein zweites Referendum über die EU-Mitgliedschaft, und Zehntausende gehen dafür in London auf die Straße. Könnte es so kommen, dass der Brexit am Ende gar nicht stattfindet?
Das hängt ganz davon ab, ob es Neuwahlen gibt und welche Regierung das Vereinigte Königreich danach bekommen wird.

Großbritannien gilt vielen als Bremsklotz, der europapolitische Integrationsschritte immer wieder blockiert hat. Wäre die EU in Wahrheit nicht besser dran, wenn sie ohne Großbritannien weitermacht?
Ganz sicher nicht. Eine EU mit 28 Mitgliedstaaten ist immer besser als eine EU-27 ohne das Vereinigte Königreich. Der Brexit kennt nur Verlierer. Ausgeschlossen ist in der britischen Politik nichts. Wir haben immer wieder Überraschungen erlebt. Sollte es tatsächlich zu einem zweiten Referendum kommen und sollten sich die Briten mehrheitlich für einen Verbleib in der EU entscheiden, würde ich das sehr begrüßen.
Herr McAllister, vielen Dank für das Interview.