Nach dem Brexit dürfte David McAllister (48, CDU) zu den letzten Europa-Abgeordneten mit britischem Pass gehören – denn der gebürtige Berliner (Vater Brite, Mutter Deutsche) hat zwei Staatsbürgerschaften. Kein Wunder, dass er das Thema mit Leidenschaft diskutiert.

Im B. Z.-Interview geißelt der Vizepräsident der Europäischen Volkspartei EVP (Zusammenschluss konservativ-bürgerlicher Parteien im EU-Parlament) den geplanten Austritt als historischen Fehler und warnt mit Blick auf die Europawahl (26. Mai) vor der AfD.

Wie erleben Sie die Stimmung auf der britischen Insel?
Die Emotionen schlagen hoch, seit drei Jahren spaltet die Debatte die Gesellschaft. Seit dem Referendum springt einen der Brexit in jeder Zeitung, auf jedem Sender tagtäglich an. Manche sagen, sie können es nicht mehr hören. Der Riss geht durch Familien, Freundeskreise, Kollegen. Es ist ein toxisches Thema, das man im privaten Alltag besser vermeidet.

Erinnert irgendwie an die deutsche Flüchtlingsdebatte…
Es ist anders. Zum einen, weil sich die Lage in Deutschland wegen des sinkenden Zuzugs beruhigt hat – und Großbritannien auf die eigentliche Krise erst zusteuert. Hinzu kommt, dass das Vereinigte Königreich aus vier Nationen besteht, die sich unterschiedlich positionieren. Auch nach dem EU-Austritt wird der Streit nicht enden. Jede Entwicklung, ob gut oder schlecht, werden die Befürworter und Gegner fortan mit dem Brexit erklären. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bleibt gefährdet.

Wie konnte es so weit kommen?
Der Brexit zeigt, was passiert, wenn die Saat der Nationalisten, Populisten und Demagogen aufgeht. Ausgerechnet in dieser Lage überlegt die AfD dasselbe für Deutschland! Sie schließen den Austritt aus der EU, den „Dexit“ nicht aus. Die AfD ist die deutsche Brexit-Partei!

Führt überhaupt noch ein Weg am harten Brexit vorbei?
Das Austrittsabkommen hat die EU 17 Monate mit London verhandelt, beide Seiten sind schmerzhafte Kompromisse eingegangen. Der Brexit kennt keine Gewinner. Die EU möchte eine möglichst enge Kooperation und die negativen Folgen so gering wie möglich halten. Dieses Ergebnis hat das britische Unterhaus jetzt abgelehnt. Gleichzeitig will aber eine sehr große Mehrheit der Abgeordneten keinen harten, ungeregelten Brexit. Aber was wollen sie dann? Diese Frage können nur sie selbst beantworten. Das Parlament ist derzeit in einem „Dead Lock“, einer politischen Sackgasse. Ein harter Brexit wäre ein schwerer Schlag. Es würden alle in Europa enorm verlieren.

Premierministerin Theresa May (62) kämpfte bis zuletzt für ihr Brexit-Abkommen, obwohl der Rückhalt selbst der eigenen Parteifreunde fehlte (Foto: AFP)
Premierministerin Theresa May (62) kämpfte bis zuletzt für ihr Brexit-Abkommen, obwohl der Rückhalt selbst der eigenen Parteifreunde fehlte (Foto: AFP)

Muss die EU den Briten weiter entgegenkommen?
Das verhandelte Austrittsabkommen ist fair und ausgewogen. Eine Fristverlängerung für den EU-Austritt um ein paar Wochen wäre wohl möglich. Aus meiner Sicht würde das nur dann Sinn ergeben, wenn es eine substantiell veränderte politische Lage in London gäbe.

Gibt es noch eine realistische Chance, dass London den Brexit in letzter Minute abbläst?
Persönlich würde ich mir das sehr wünschen. Tatsächlich könnte die Regierung das Verfahren beenden und das Volk noch einmal abstimmen. Aber das geht nur mit Zustimmung des Unterhauses. Zu klären wäre dann, über welche Varianten die Bürger eigentlich abstimmen sollten. Die Kampagne vor einem weiteren Referendum würde sehr emotional verlaufen.

Gibt es auch in anderen EU-Staaten Absatzbewegungen?
Keine Regierung in Europa überlegt auch nur im Ansatz einen Schritt wie Großbritannien. Zwar gibt es die eine oder andere Partei, die einen EU-Austritt propagiert, aber sie sind nicht in Verantwortung. Der Brexit war ein Weckruf für alle 27 Staaten. Jetzt ist zu beobachten, was bei einem Austritt tatsächlich passiert. Die Versprechen der Brexiteers haben sich als Lügen erwiesen. Alle können sehen, wie groß die Verwerfungen sind.

Warum tut sich Premierministerin Theresa May das alles an und schmeißt nicht hin?
Frau May hat den Austritt aus der EU nicht gewollt und vor dem Referendum 2016 für einen Verbleib geworben. Sie sieht sich in der Pflicht, den Willen einer knappen Mehrheit der Abstimmenden zu respektieren und den Brexit geordnet über die Bühne zu bringen. Zu beobachten ist bei ihr eine typisch britische Haltung: die „stiff upper lip“ (steife Oberlippe) steht für kontrollierte Gefühle. Dazu gehört auch: „Never explain, never complain“ (beschwere dich nie, erkläre dich nie) und das Motto „Keep calm and carry on“ (bleibe ruhig und mach weiter). Da können die Kommentare noch so hämisch sein.

Warum meldet sich die Queen nicht zu Wort?
Die Queen bleibt traditionell politisch neutral – auch in bewegten Zeiten.

Kritiker werfen Angela Merkel vor, sie täte zu wenig, um das Schlimmste zu verhindern?
Der Vorwurf ist falsch! Die Bundeskanzlerin steht in engem Austausch mit Frau May und ebenso den weiteren 27 Staats- und Regierungschefs sowie Jean-Claude Juncker und Donald Tusk. Sie nimmt eine ausgesprochen konstruktive Rolle ein. Jetzt liegt der Ball aber im britischen Spielfeld.